KREUZWEG MIT 15(!) STATIONEN IN BILD UND TEXT
1. Station: Jesus wird zum Tod verurteilt
Pilatus weiß um die Unschuld Jesu, und er weiß um seine eigene Schuld. Er
fürchtet eine Anklage beim Kaiser, er will jetzt keinen Ärger, kein Aufsehen,
er gibt Jesus preis, hat seinen Vorteil im Blick, nicht die Wahrheit, nicht das
Recht. Er überantwortet Jesus dem Tod und schenkt neues Leben. Er
begräbt die Hoffnung und gibt ihr so neue Nahrung. Die Totengräber werden
zu Geburtshelfern wider Willen. Die Handlanger des Todes reichen dem
Leben unwissentlich die Hand. Womit durch das Todesurteil Schluss sein
sollte, das fängt Ostern an. Der, der seine Hände meint, in Unschuld
waschen zu können, senkt den Daumen. Geste der Herrscher. So etwas hatte
Pilatus noch nicht erlebt. Er kannte Gefangene, die um ihre Freiheit bettelten.
Doch Jesus tritt anders auf. Statt Unterwürfigkeit oder Zorn Ruhe und
Gelassenheit. „Bist du ein König?“, fragt Pilatus. Und fragt sich, warum er
fragt. Zusammenfassung der Anklage oder verborgene Sehnsucht nach
einem wahren Herrscher, der Tyrannei, Unrecht und Gewalt beendet? Doch
diese Sehnsucht ist gefährlich, wenn sich die eigene Stellung gerade darauf
stützt: Tyrannei, Unrecht, Gewalt. Die Sehnsucht muss zum Schweigen
gebracht werden und mit ihr der Mensch, der sie verkörpert: Daumen runter.
2. Station: Jesus nimmt das Kreuz auf sich
Mit Schwertern und Lanzen auf alles vorbereitet. Der Befehl ist klar. Pflicht
ist Pflicht. Kein Platz für Diskussionen, keine Zeit für Nachfragen: Vollstreckung,
ohne Aufhebens. Sie vollstrecken das Urteil an ihrer Chance auf Rettung,
und ebnen ihr dadurch den Weg. Sie erfüllen die Pflicht, auf die die Kür
folgen wird. Nicht jetzt und hier. Mit der Verhaftung begann der Prozess,
Schauprozess, dessen Urteil schon vorher feststand. Doch der mit der Vollstreckung
des Urteils noch lange nicht zu Ende ist. Die Mannschaft ist komplett
angetreten. Könige bestrafen gefällt. Spott treiben, mit denen da oben.
Doch wie ein König sieht der nicht aus, den die Bewaffneten herbeiführen.
Zum Erbarmen. Zweifel regen sich. Doch schnell sind sie zerstreut. Die Show
kann beginnen. Die Mannschaft ist komplett angetreten. Und mitten unter
ihnen? Wir sitzen nicht in der zweiten Reihe der Unbeteiligten. Wir haben
nicht das Recht, mit dem Ausdruck der Entrüstung das Spektakel der Soldaten
zu verurteilen. Schauen wir hin: Gefesselt, bespuckt, vom Kreuz
gedrückt, mit schmerzverzerrtem Gesicht unter der Dornenkrone: Spuren
unserer Schuld, unseres Spottes gegenüber Menschen und Gott.
3. Station: Jesus fällt zum ersten Mal unter dem Kreuz
Jesus stürzt unter dem Kreuz. Unbarmherzig drückt der schwere Balken auf
seinen Schultern. Unbarmherzig zerren die Soldaten an ihren Stricken. Menschen
waren und sind zu solchen und zu viel entsetzlicheren Qualen fähig.
Das Besondere an der Kreuzigung Jesu sind nicht die Schmerzen und Qualen.
Was aber dann, das diesen Tod zu mehr macht als zum Symbol für das
Leiden der Menschen? Jesus sagt es uns selbst, wenn er am Kreuz schreit –
nach Gott, der ihn in diesem Moment verlassen hat – doch er bleibt ohne
Antwort. Jesus stürzt unter dem Kreuz – in seinem Tod stürzt er sich in
einen Abgrund, wo Gott nicht mehr ist, er stürzt sich in die Gottverlassenheit.
Noch weiß er nicht, dass er gerade durch seinen Tod Gott dahin bringt,
wo er bisher noch nicht war: in die Gott verneinende Nacht des Todes. Erst
nach seiner Auferstehung wird es heißen: Vor Jesu Tod war Gott noch nicht
in diesem Abgrund. Deshalb ist Jesu Leiden einzigartig und unvergleichlich,
weil er der Einzige ist, der im Augenblick seines Todes auch die Verlassenheit
von Gott erleidet. Was für ein Trost: Seit Jesu Tod ist kein Mensch mehr
von Gott verlassen, im Leben nicht, im Sterben nicht und selbst in seinem
Tod nicht. Die Anwesenheit Gottes kennt keine Grenzen mehr.
4. Station: Jesus begegnet seiner Mutter
Vielleicht die berührendste Station des Kreuzweges. Jesus begegnet seiner
Mutter. Hilflos und trostlos. Vielleicht fragt sie: „Warum?“ Der Gefragte ist
Gott selbst, und die Frage entlässt ihn nicht aus der Verantwortung. Einen
Sinn vermag Maria in dem Leid ihres Sohnes nicht zu erkennen, vermögen
wir nicht zu erkennen. Und dennoch muss ich nach dem Warum fragen, weil
ich daran glaube, dass nichts gegen Gottes Willen auf der Welt geschieht.
Warum? Der vor fast 20 Jahren verstorbene amerikanische Schriftsteller
Julien Green gab eine Antwort, mit der wir uns der „Warum-Frage“ nähern
können. In einem Interview antwortete er – angesprochen auf den frühen
Tod seiner Mutter: „Ja, Gott zerbrach mir mein Herz, aber alles, was Gott tut
ist richtig. Manchmal zerbricht Gott einem das Herz, um in das Herz zu
gelangen.“ Ein Satz, gesprochen aus einem tiefen Glauben, der manchmal
auch ein tiefer Schmerz sein kann. Gesprochen aus einem Glauben, der nicht
nur trösten, sondern auch weh tun kann. Gott, der einem das Herz bricht,
um den Menschen zu erreichen. Das ist schwer zu ertragen. Auch für Maria.
5. Station: Simon von Cyrene hilft Jesus das Kreuz tragen
Soldaten zwingen Simon von Cyrene, Jesus das Kreuz nachzutragen. Er
beugt sich nieder, greift nach der schweren Last, die Jesus zu Boden drückte.
Ein Fremder. Zur Hilfe gezwungen. Das soll ein Freund sein? Doch auf dem
Kreuzweg ist er der Einzige, der Jesus zur Seite steht. Wo sind Petrus und die
Apostel? Wo wären wir? Sagen wir: „Was geht mich das an“?
Auf dem Bild bleibt Simon von Cyrene im Verborgenen. Was wir sehen ist,
dass Jesus ihn anschaut. Ein Blick, der verändern kann. Ich glaube, von
Jesus angesehen, musste Simon nicht mehr helfen, er wollte helfen. Er
spürte keinen Zwang mehr, er handelte aus Barmherzigkeit. Unsere Welt
braucht Menschen wie Simon von Cyrene, barmherzige Menschen, die die
Not anderer erkennen und entschieden zupacken. Und wir kennen ungezählte
Menschen, denen es geht wie Simon von Cyrene. Ihre Berufung sehen
sie in der Barmherzigkeit, im Dienst am Nächsten. Die Sozialhelferin, der
Missionar, der Altenpfleger, die Krankenschwester. Freundschaft
6. Station: Veronika reicht Jesus das Schweißtuch
Sie fragt nicht danach, was die anderen Menschen denken. Mutig dringt
Veronika durch die Menge und reicht Jesus das Schweißtuch. Sie gibt dem
geschundenen Menschen ein Stück Würde zurück. Im Tuch prägt sich das
Antlitz des Herrn ein. Das Bild veranschaulicht den Liebesdienst Veronikas.
Es drückt Verbundenheit aus. Sich einbinden zu lassen in das Schicksal des
anderen. Eins sein mit dem, der keine anderen Bindungen mehr hat. Für
Veronika nur eine kleine Geste, für Jesus symbolisiert sie all das, wofür er
das Kreuz auf sich genommen hat. Für Veronika nur eine kleine Geste, doch
sie symbolisiert die Verbundenheit Gottes mit uns.
Veronika bricht aus dem bequemen Strom der Gleichgültigkeit aus. Sie hat
Augen, die nichts übersehen; Ohren, die hellhörig sind; ein Herz, das sich
berühren lässt; Hände, an die man sich festhalten kann. Die Welt braucht zu
allen Zeiten und an allen Orten solche Augen, solche Ohren, solche Herzen
und solche Hände – solche Menschen. Menschen, die sich zum Beispiel in
einem Hospiz über Sterbende beugen, ihren Kopf in die Hand nehmen, die
Hände des Schwerkranken halten, Trost und Liebe spenden. Hände, an
denen man sich festhalten kann. Überall können wir wie Veronika Christus
begegnen.
7. Station: Jesus fällt zum zweiten Mal unter dem Kreuz
Jesus stürzt wieder unter dem Kreuz. Fast scheint es, als hätten die Soldaten
Mitleid, wollten ihn von der Last befreien. Irrtum. Wunschdenken. Das
Kreuz wird aufgerichtet, um es dem Geschundenen; dem, der nicht mehr
kann, wieder aufzubürden. Die Soldaten, sie sind keine Kreuzträger. Dass
Jesus wieder unter dem Kreuz stürzt, es wirft ein düsteres Licht auf Jesu
Wort von der Kreuzesnachfolge: „Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt,
kann nicht mein Jünger sein.“ Er meint diese Worte so, wie er sie sagt.
Kein Ausweg, kein Schlupfloch. Ein bisschen nachfolgen, ein bisschen glauben
– das geht nicht. Zur Kreuzesnachfolge kann auch gehören, unter dem
Kreuz zusammenzubrechen. Gott kann es nur ganz geben und nicht in Teilen,
glauben kann ich nur mit dem ganzen Leben und dem ganzen Leiden
und dem ganzen Sterben – und kann es auch wieder nicht, denn Nachfolge
ist unendlich schwer, tut oft weh und misslingt ständig. Doch eines können
wir heute: Ehrlich sein. Sagen wir es Gott, wie schwer uns die Nachfolge fällt,
verschweigen wir nicht, wie oft wir scheitern. Angesichts Jesu, der unter dem
Kreuz zusammenbricht, gilt nur noch Ehrlichkeit.
8. Station: Jesus begegnet den weinenden Frauen
Jesus begegnet den weinenden Frauen. Diese reagieren so anders als die
Schaulustigen und die Spötter, so anders als die Soldaten. Ihre Reaktion gibt
mir eine Antwort auf die Frage, warum Gott das Leid zulässt, warum er das
Kreuz im Leben lässt. Carlo Carretto, ein Mitglied der „Kleinen Brüder Jesu“
Charles de Foucaulds schreibt, dass Gott das Leid nicht einfach aus der Welt
nehme, „weil er sich nicht davor fürchtet, dich weinen zu sehen, denn er
weiß, was Tränen wert sind.“ Das Leid der Mitmenschen ist der Scheidepunkt
unseres Lebens. Wie das Kreuz in der Mitte des Bildes steht, so begegnen
wir dem Leid mitten in unserem Alltag. Doch wie reagieren wir darauf?
Mit Schadenfreude, gleichgültig oder mit mitleidender Liebe und Hilfe? Wie
wir reagieren, ist nicht egal, sondern eine zentrale Frage unseres Lebens.
Deshalb ergibt es einen Sinn, dass Gott das Kreuz im Leben lässt, Carlo Carretto
schreibt: „Gott gibt uns den Stachel ins Fleisch, damit wir spüren, was
die Welt braucht.“ Leid als Aufgabe. Es erinnert uns daran, dass wir zur
Liebe fähig sind. Dass die Welt und die Menschen unsere Liebe brauchen.
Wenn wir am Leid der Menschen mitleiden, dann hilft unsere Liebe nicht
nur den Leidenden, sondern auch uns selbst.
9. Station: Jesus fällt zum dritten Mal unter dem Kreuz
Den Boden unter den Füßen verloren, ohne Rutschfestigkeit, das Gewicht des
Kreuzes zwingt Jesus in die Knie. Haltlos wird er doch getragen. Wenn sich
der Boden unter unseren Füßen auftut, wenn wir ins Rutschen geraten, keinen
Halt finden, können wir doch nicht tiefer fallen als in Gottes Hände.
Jesus geht seinen Weg konsequent, er weicht den Tiefen nicht aus, nicht dem
Tod, dem Tiefpunkt des Lebens. Gottes Liebe reicht auch bis in diese Tiefe
und erhebt ihn – und auch uns – in die Höhe.
Ein Mensch am Ende seiner Kräfte. In seinem Zusammenbruch schreit die
ganze Menschheit ihre Verzweiflung heraus. Der Balken, der ihn niederdrückt,
ist der Fluch dieser Erde. Unsere Schuldenlast bringt ihn zu Fall.
Doch die Unbarmherzigkeit kennt immer noch keine Grenzen. Jesus ist am
Ende, doch seine Peiniger sind noch nicht fertig mit ihm. Wieder auf! Worte
können nicht beschreiben, was nur die verstehen, die es selbst erlitten haben:
Ausgebrannt zu sein. Wieder fällt Jesus unter der Last des Kreuzes. Wieder
und wieder fallen auch wir. Jesus liegt am Boden. Der Leib zerschlagen, die
Seele ermattet, hoffnungslos müde. So wird er zum Verbündeten aller Verzweifelten.
10. Station: Jesus wird seiner Kleider beraubt
Vor der gaffenden Menge vollständig entblößt, allem Persönlichen beraubt,
auch das letzte Stück Stoff, das ihm gehört, seine letzte Würde – fortgerissen.
Der geschundene Körper enthüllt. Wie eine Landkarte spiegelt er wider, was
ihm Menschen antaten. Gott, der auf die Hüllen, hinter denen wir uns verstecken,
auf Kleidung, Ämter, Reichtum keinen Wert legt, verleiht dem Würde,
der hüllenlos ist.
Jesus nimmt die letzte Schmach des Verbrechertodes auf sich. Er stellt sich
zu denen, die nackt vor ihren Peinigern stehen, bloßgestellt als Schauobjekt
der Schamlosen. Erniedrigter kann ein Mensch nicht sein. Sein Blick ist nach
innen gerichtet. Er weiß, dass die Liebe Gottes äußeren Schutzes nicht
bedarf. Nur diese Gewissheit lässt ihn auch diese Demütigung auf sich nehmen.
Der bloßgestellte Jesus zeigt uns, dass in uns ein Raum ist, zu dem Gaffer
keinen Zutritt haben, sondern die Verletzungen von uns abprallen. Da
wohnt Gott in uns. Und die liebende, heilende Gegenwart Gottes umschließt
uns wie ein Kleid. Nackt stellt sich Jesus zu den Nackten.
11. Station: Jesus wird ans Kreuz genagelt
Festgenagelt an das Holz. Keine Fluchtmöglichkeit. Kein Bewegungsspielraum.
Jesus ans Kreuz geschlagen mit Hammer und blanken Nägeln. Keiner
holt ihn mehr herab. Ein paar Nägel reichen, den Menschen alle Freiheit und
alle Hoffnungen zu rauben. Solche Nägel gibt es viele: Krebs und Aids sind
oft Nägel, die keinen Spielraum mehr lassen. Mörderische Gewalt und tödlicher
Hunger. Ans Kreuz schlagen, konnten nicht nur die Römer.
Jemanden ans Kreuz zu schlagen, können die Menschen bis heute. Oft
schmerzen uns die Augen von dem, was wir sehen; tun uns die Ohren weh
von dem, was wir hören; verstummt uns der Mund vor dem, was geschieht.
Warum? Warum die Nacht um mich? Warum die Angst und der Tod?
Warum?
Dem Tod ausgeliefert. Angst. Gott ausgeliefert. Trost. Weil Jesus sich der
Todesangst auslieferte, dürfen wir hoffen, dass wir auch in den schlimmsten
Ängsten Gott anvertraut sind.
12. Station: Jesus stirbt am Kreuz
Worte können den Tod nicht erklären und nur selten trösten. Das Schweigen
Gottes am Karfreitag, von dem der ehemalige Bischof von Aachen, Klaus
Hemmerle, sprach, das Schweigen Gottes bei dem Tod eines jeden Menschen
bleibt. Bischof Hemmerle schrieb: „Das Schweigen Gottes bleibt, und dieses
Schweigen wird durch Ostern nicht ausradiert. ... In Ostern ist zwar der Karfreitag
überholt, aber zu Ostern, in Ostern hinein gehört für immer das
Schweigen des Karfreitags. Das Wort ist Schweigen geworden. Und nur wer
dieses Schweigen versteht, versteht das Wort.“ Das Schweigen zu verstehen,
heißt, ohne Antworten zu vertrauen. Den Tod anzunehmen, ist ein Akt des
Glaubens, dem schweigenden Gott zu vertrauen. In die Schatten des Todes
fällt Licht. Es bleibt nicht alles dunkel. Das Dunkel bleibt auch, aber es ist
auch Licht da. Seit Gott in Jesus Christus gestorben ist, ist auch der Tod kein
von Gott verlassener Ort mehr. Vielleicht spüren wir Gott nicht immer und
überall, doch seit Karfreitag dürfen wir darauf vertrauen, dass er gerade und
besonders im Leid gegenwärtig ist. Und das er uns in unserem Sterben
erwartet. Mit dem Tod schließt sich der Kreis des Lebens – so kennen wir
das. Doch so stimmt das ja nicht. Es bleibt ein Spalt offen in diesem Kreis.
Und durch diesen Spalt dringt das Licht des Ostermorgens in das Dunkel des
Karfreitags, durch diesen Spalt dringt das Leben in den Tod.
13. Station: Jesus wird seiner Mutter in den Schoß gelegt
„Weil Gott nicht überall sein kann, schuf er die Mütter“, sagt ein bekanntes
Sprichwort. Gemeint ist die Geburt eines Kindes; gemeint ist die stillende
Mutter, die ihr Kind ernährt; gemeint ist die Mutter, die ihrem Kind die ersten
Worte beibringt und bei den ersten Schritten festhält. Gemeint ist Maria,
ohne die Gott nicht hätte Mensch werden können. Gemeint ist aber auch die
Mutter unseres Bildes, die Mutter einer Pietà. Wer sonst hätte um den toten
Sohn trauern können, wer sonst hätte ihn noch einmal bergend, liebend in
Armen halten können, wenn nicht Maria. Den Schmerz, den wir empfinden,
wenn Eltern ihr Kind begraben müssen, diesen Schmerz müssen wir heute
aushalten – auch wenn es nichts Schlimmeres geben kann. Den Schmerz,
den Eltern empfinden, die am Grab ihres Kindes stehen. Wenn eine Mutter
oder ein Vater ihr Kind beweinen müssen, stimmt irgendetwas nicht. Dann
ist die Ordnung auf den Kopf gestellt. Wenn Eltern ihr Kind beweinen, dann
hält sich der Tod nicht an die Regeln, tritt zur Unzeit ein, lässt uns fassungslos
zurück. Rainer Maria Rilke schrieb 1912 in seinem „Marienleben“: „Jetzt
wird mein Elend voll und namenlos erfüllt es mich. Ich starre wie des Steins
Inneres starrt. Hart wie ich bin, weiß ich nur eins: Du wurdest groß, um als
zu großer Schmerz ganz über meines Herzens Fassung hinauszustehen. Jetzt
liegst du quer durch meinen Schoß, jetzt kann ich dich nicht mehr gebären.“
14. Station: Jesus wird ins Grab gelegt
Schluss. Ende. Jesus begraben. Der Leichnam in Tücher gehüllt, in einer
Felshöhle verborgen. Ruhe. Friedhofsruhe. Endgültig Abschied nehmen. Loslassen.
Nichts mehr ist zu sagen, nichts mehr zu hören. Alles Geschrei, alle
Schmerzen sind an ihr Ende gekommen. Menschenmögliches kann nicht
mehr getan werden. Was bleibt von ihm? Nur die Erinnerung? Wann wird er
vergessen sein? Wer wird von ihm sprechen? Der am Ende so offensichtlich
gescheitert ist? Ist auch die Hoffnung an ihr Ende gekommen? Oder ist das
Leben nicht doch stärker als der Tod?
Tiefe Trauer um die Toten seit es Menschen gibt. Tiefe Trauer um Jesus. So
kann doch nicht alles enden. Irgendwo muss es Tag sein für die Menschen
der Nacht, die durch den Tunnel der Verzweiflung gehen. Sind Gräber
„Geburtsorte“ neuen Lebens? Durchgang vom Schatten zum Licht? Irgendwo
muss Auferstehung sein auch heute für dich und für mich. Auf der Suche
nach Wegen durch das Tal der Tränen halten wir Ausschau nach Leben.
15. Station: Auferstehung
Die letzte Station, sie hat kein Bild. Hier gibt es nichts zu sehen. Hier müssen
wir uns auf das Wort derer verlassen, die gesehen haben. „Er ist nicht hier;
denn er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt her und seht euch die
Stelle an, wo er lag.“ Die Worte des Engels am Ostermorgen lenken den Blick
auf das leere Grab, auf die Leinentücher, in die Jesus gewickelt war. Wir
selbst können natürlich nicht mehr schauen, wir sind auf das angewiesen,
was uns die Augenzeugen in den Evangelien berichten. Fällt es deshalb vielleicht
vielen heute schwer, an die Auferstehung zu glauben? Ich glaube, den
Augenzeugen damals fiel es nicht leichter, die Evangelien berichten von
ihrem Erschrecken und ihrer Fassungslosigkeit. Sie standen vor der gleichen
Frage, wie wir heute:
Ist Jesus auferstanden – oder ist er es nicht? Wer auf diese Frage momentan
keine Antwort hat oder sich unsicher ist, auch der ist in den Evangelien in
guter Gesellschaft. Ich möchte an die Emmausjünger erinnern, die Jerusalem,
wo Jesus gestorben war, verließen, weil sie keine Hoffnung mehr hatten.
Ich möchte an Thomas erinnern, dem das Wort der anderen Jünger nicht
ausreichte, der sehen und sogar berühren wollte. Ich möchte an Petrus erinnern
und die anderen Apostel, die – obwohl sie vom leeren Grab gehört und
es gesehen hatten – in ihren Alltag als Fischer zurückkehrten und dem Auferstandenen
erst noch einmal begegnen mussten. Sich mit dem Glauben an
die Auferstehung schwerzutun, ist keine Schande.
Aber auch für den, der die Frage nach der Auferstehung festen Glaubens
bejahen kann, haben die Fragen damit oft noch kein Ende. Andere Fragen
drängen sich auf. Manche davon sind unsinnig: Wie war das denn jetzt
genau – mit der Auferstehung, physikalisch, biologisch? Eine Frage, die wir
weder beantworten können noch müssen. Und es gibt wichtige Fragen:
Was bedeutet die Auferstehung Jesu für mein Leben? Vielleicht die entscheidende
Frage. Ist sie nur ein historisches Ereignis vor fast 2.000 Jahren, dessen
wir einmal im Jahr freudig gedenken? Oder ein Ereignis, das das Leben
begleitet und prägt?
Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat gesagt: „An einen Gott zu glauben,
heißt: die Frage nach dem Sinn des Lebens verstehen. An einen Gott zu glauben,
heißt: sehen, dass es mit den Tatsachen der Welt noch nicht getan ist.
An einen Gott zu glauben, heißt: sehen, dass das Leben einen Sinn hat.“
Dass das Leben einen Sinn hat – diese Worte weisen für mich in die entscheidende
Richtung. Nicht die vielen unsinnigen oder wichtigen Fragen rund um
die Auferstehung sind das Entscheidende, sondern das Ostern die Antwort
auf alle Fragen ist.
Oder wie es Dietrich Bonhoeffer formulierte: „Christus ist nicht in die Welt
gekommen, dass wir ihn begriffen, sondern dass wir uns an ihn klammern,
dass wir uns einfach von ihm hinreißen lassen in das ungeheure Geschehen
der Auferstehung.“
Michael Tilmann